Im Zeitalter des Zorns
- Hendrik Bicknäse

- 1. Feb. 2017
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 14. Juli
Aufgepeitscht von Populisten, die sich selbst als Outsider feiern, besinnt sich ein ehedem schweigender Teil der Bevölkerung nun plötzlich auf seine Rechte, die er primär als Freipass für zivilen Ungehorsam und Selbstjustiz auslegt. Schauen wir uns Videos von Maskengegnern an, die ganze Supermärkte stürmen und demolieren. Ganz egal, wo man hinschaut, entlädt sich die Wut der Frustrierten, Übergangenen und Abgehängten auf das nicht genauer definierte ‚System‘. Dieser heute praktizierte Individualismus gewinnt seine Identität und Existenzgrundlage nicht aus einer inneren Überzeugung. Er definiert sich vielmehr via Konfrontation und Ablehnung. Eine Ablehnung, die sich gegen jeden und alles richten kann, besonders häufig gegen den Staat und seine Organe abzielt. Der Obrigkeitshass militanter Selbstbestimmungsfanatiker nimmt dann auch immer düstere Züge an, bis hin zur identitären Bewegung und zu überzeugten Reichsbürgern.
Individualismus, verstanden als Unangepasstheit und Eigentümlichkeit, ist gut, interessant, faszinierend. Aber nicht, wenn er zu einem verengten Geisteszustand wird, der die Konsensfindung verunmöglicht. Der Individualismus hat kollektivistische Ideologien überwunden. Dafür hat er uns nun in den Albtraum einer zersplitterten Gesellschaft geführt, die sich voneinander isoliert in ihren jeweiligen eigenen Echoräumen exklusiv trifft und wiederfindet. Der blinde Drang nach unbedingter Selbstbestimmung kann auch in die Knechtschaft führen: in die Knechtschaft des Egos, in der man nur selbst Gesetz ist. Es ist allein eine Frage der Zeit, bis ein kollektivistischer Backlash folgt, der sich gewaschen hat.
Wir glauben zwar, frei zu sein, doch wir sind es nicht. Das Freiheitsstreben des Einzelnen führt zu sozialer Kälte. Der Andere wird nicht als Bedingung, sondern als Hindernis der eigenen Freiheit betrachtet. Es kommt zu Konkurrenzkämpfen und unsolidarischem Verhalten. - Freiheit kann es nur in einem geglückten Miteinander, in einem solidarischen Füreinander-tätig-sein geben. Wir leben jedoch in einer Gesellschaft, in der vielfach vor allem nach Verwirklichung der eigenen, individuellen Freiheit gestrebt wird. Die soziale Dimension des Zusammenlebens kommt so zu kurz. Unabhängigkeit heisst für den Philosophen immer auch Verpflichtung.
Göttingen, im Feb. 2017





_edited.jpg)
Kommentare