Gespenster der Hypermoral
- Hendrik Bicknäse

- 1. Feb. 2018
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 14. Juli
Wir leben in unlustigen Zeiten. Eine Zeit erkennt man oft auch daran, wie wenig kleine Fehler verziehen werden.
Die Kleingeisterei zerstört das Klima, in dem Kunst entstehen kann, das Klima der Toleranz. Das Klima der geistigen Freiheit, freilich auch für Übertreibungen, die nun einmal zur Kunst gehören. Wenn alles sanktioniert wird, erstickt die Kunst, das wird dann eine Form von Barbarei.
Dass man ernsthaft in den USA Studenten vor Literatur warnt, die Sex- oder Gewaltdarstellungen enthalten; dass man hierzulande ein Gedicht von Eugen Gomringer übermalt, weil das enthusiastische Lob von Blumen, Alleen und Frauen bei ein paar Studentinnen die Sexismus-Falle zuschnappen läßt: das ist unerträglich, dumm und heuchlerisch. Wenn Dozenten an Universitäten ihre Bürotüren offen stehen lassen, wenn sie mit einer Studentin reden, dann ist ein Zustand erreicht, den niemand ernsthaft will. Zu allen Zeiten hat es Sex zwischen Studenten und Professoren gegeben.
Früher halfen Persiflagen und ironische Kommentare, die Kleingeisterei zu karikieren. Heute werden sie von sozialen Netzwerken blockiert. Dabei ist der Humor das Menschlichste, was wir haben.
Die Angriffe gehen zumeist von den spießigsten Kleingeistern aus, von Leuten, die intellektuell nichts taugen. Die weder verstehen können noch wollen, dass Kunst mit Lust zu tun hat und sich gerade nicht in den Bahnen des Braven, Wohlanständigen bewegt. Die Enge in manchen Köpfen soll auch anderen übergestülpt werden – denen, die mehr denken können, weiter ausgreifen, die mehr erleben, mag sein, auch sexuell.
Ein verbissener Kampf für eine völlig überzogene Political Correctness ist letztlich Ausdruck von Hass, von blankem Hass auf Menschen, die es wagen, mehr auszuprobieren in ihrem Leben. Dies gefährdet Errungenschaften, die wir nicht aufgeben dürfen. Es sind bei Weitem nicht nur Anhänger rückwärtsgerichteter Gesinnung, die sich unsere Gesellschaft nur zu gern übersichtlicher vorstellen möchten.
Dass Lust und Grosszügigkeit auch in der Kunst Grenzen haben, ist keine Frage: Diskriminierung und Gewalt, menschenverachtende Haltungen, Nazis oder Gewalttäter sind nicht hinzunehmen, das versteht sich eigentlich von selbst.
Leider wird der freiheitliche Geist, der erkämpft wurde, auch von der Frauenbewegung, erstickt. Liebe und Erotik leben vom Spiel. Davon, dass man sich auf etwas einlässt, das man glücklicherweise nicht ins Letzte planen kann. Dass man Grenzen auslotet. Dass man eine Abfuhr kassiert. Wie weiß man, dass die Anmache unerwünscht ist, bevor man es probiert hat?
Wie können junge Menschen das lernen, wenn der Pfad immer schmaler wird und fast schon jeder Schritt auf verbotenes Terrain führt? Einerseits wird Liebe und Sexualität mit immer neuen Tabus belegt und masslos idealisiert. Auf der anderen Seite wuchert im Untergrund eine Pornografie von nie gekannter Brutalität. Und dazwischen staut sich ungelebte Sexualität auf. Die Errungenschaften der Emanzipation werden zu Staub zerrieben und verwehen. So schafft sich die Hypermoral ihre eigenen Gespenster. Und die um sich greifende Paranoia hindert uns daran, wirkliche Missstände von Übeln zu unterscheiden.
Es ist auch eine Frage an uns alle, was wir ändern müssen, was wir besser machen müssen, um die unerträgliche akademische Übersichtlichkeit, die uns den Hals bricht, zu stoppen. Flirten, Sex und Begehren schaffen immer vieldeutige Situationen. Es ist unmöglich diesen Graubereich zu kontrollieren. Kontrollen dieser Art sind manipulativ, fördern das Opferdenken, zerstören Karrieren und infantilisieren junge Menschen.
Frauen werden durch solchen Verfolgungswahn verletzlicher. Ja, sie werden entmutigt, selber Handelnde zu sein. Institutionen nehmen ihnen Verantwortung für ihr Tun ab. Wie kann man junge Menschen so auf das Leben vorbereiten? Wenn ihnen gesagt wird, dass ambivalent erlebter Sex gleichbedeutend sei mit einem sexuellen Übergriff, haben sie ein Trauma für den Rest ihres Lebens. Jedoch: In der Wattewolke wird niemand resilient.
Auch wenn politisch oder menschlich zweifelhafte Künstler und Literaten abgelehnt werden, deren Arbeiten und Bücher möchte ich nicht missen – wenn sie doch gut sind. Beispiele dafür gibt es reichlich. Bleibt zu hoffen, meine Sätze führen nicht zur weiteren Verwirrung einfacher Gemüter.
Göttingen, Feb. 2018





_edited.jpg)

Kommentare