Die Liebe zu den Dingen
- Hendrik Bicknäse

- 8. Aug. 2019
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 14. Juli
Als ich während meines Studiums bei HaBe das erste Mal dessen Wohnungstür öffnete und er mich in seine Studentenbude einließ, waren wir damals engagierte Hausbesetzer. Auf der Höhe dieser Zeit, Mitte der 70er Jahre, verteidigten wir mit energischer Überzeugung und Inbrunst die Altbau-Gestaltung im Zentrum unserer mittelalterlich geprägten Universitätsstadt. So wunderte es mich nicht, dass Unmengen Zeitungen und Zeitschriften in Stapeln auf dem Boden verteilt lagen und es ersichtlich kaum Platz gab um sich zu setzen. HaBe hatte viel zu lesen und da von ihm alle paar Tage ein neues Flugblatt geschrieben wurde, war er für mich ein Messias. Die Unordnung beachtete ich kaum, er hielt - so glaubte ich - auf seine Weise Ordnung und Übersicht in diesem Wirrwarr, in dem er allein lebte. Nebenbei bemerkt ist es reiner Zufall, dass seine und meine Initialen sich gleichen. Das hat keine weitere Bedeutung.
In all den Jahren, die wir seither miteinander freundschaftlich verbunden sind, wurde ich immer seltener in seine Wohnung eingelassen. Dabei habe ich ihn gelegentlich besucht oder habe versucht, ihn zu besuchen. Und obwohl mich stets dasselbe erwartete, kam ich doch jedes Mal auf meine Kosten. Auch darum ging ich zu ihm. Ich staunte nicht über seinen Aufzug, sondern über das, was sich meinem Blick hinter ihm darbot. Vermutlich brauchte ich den Beweis, was ich beim letzten Besuch gesehen hatte, tatsächlich noch immer so war, wie ich es in Erinnerung hatte. Dabei war es vielleicht noch überwältigender als in meiner Erinnerung. HaBe bewahrte schwindelerregende Türme und Haufen von Dingen auf, die andere gewöhnliche Sterbliche längst weggeworfen hätten. Er war der erste Messie, dem ich begegnete, lange bevor der Begriff im allgemeinen Bewusstsein angekommen war.
HaBE blieb ein alleinlebender, unverheirateter und begnadeter Pädagoge. Seine Leidenschaft war es, jungen Menschen den Weg ins Erwachsenenleben zu ebnen. Dafür bot er ihnen die erforderliche Nahrung. Als junger Mann war er leidenschaftlicher Fußballer in seiner aktiven Zeit gewesen, auch sonst war er sportlich und sehr naturverbunden. Er konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Gesellschaftspolitisch war er überaus wach und kam, wie ich, aus einfacher dörflicher Umgebung. Gemeinsames verband uns und sein kritischer Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse kam bei mir gut an.
Wenn er mir die Tür öffnete, waren die Berge, durch die schmale Gänge von Zimmer zu Zimmer führten, wieder um ein paar Zentimeter gewachsen. Die Herdplatte war unter Werbeprospekten, Konservendosen und Nudelpackungen, ungeöffneten Paketen und Lebensmitteln, deren Verfallsdatum längst abgelaufen war, verschwunden.
Habe führte ein geregeltes Leben, auch nachdem er bereits Rentner war, unterrichtet er weiter. Hin und wieder ging er mit seinen Freunden aus, obschon er eigentlich Einsiedler war, konnte er doch recht gesellig sein. Die Badewanne war unnütz und unbrauchbar, in der er seit Jahren nicht mehr badete. Sie war randvoll mit Schachteln, Zeitungsstapeln, Kleidung und Zeitschriften angefüllt. Habe wusch sich stehend am Waschbecken. Neben seinem skurrilen Charme nahm mich für ihn der Umstand ein, dass er sein zwanghaftes Verhalten nicht etwa zu verheimlichen suchte, auch wenn er nie darüber sprach. Sobald ich ihn darauf ansprach, versicherte er mir, er habe sich vorgenommen, den Zustand in den nächsten vierzehn Tagen grundlegend zu ändern und zu verbessern. Auch sein Vermieter wolle die Wohnung gern einmal besichtigen und sich vom Zustand überzeugen, daher sei es jetzt an der Zeit, einiges zu entfernen und aufzuräumen.
Wer mit ihm Umgang hatte, schwieg über das, was man heute eine Krankheit nennt. Doch bei jedem Besuch rieb ich mir die Augen aufs Neue: Wenn Habe mir die Haustür öffnete, humpelte er von seiner Erdgeschoßwohnung extra zur Haustür herunter, um zu vermeiden, dass ich unmittelbar vor seiner Wohnungstür landete. Wenn ich doch das eine oder andere Mal direkt vor seiner Wohnungstür stand und er mir die Tür öffnete, waren die Berge wieder um ein paar Zentimeter gewachsen.
Als Freunde boten wir ihm mehrfach unsere Hilfe an. Wir wollten ihm Platz schaffen und mit unserem Anhänger zu ihm kommen. Wollten zuerst in seinem Keller und dann auch in der Wohnung die unbrauchbaren und überflüssigen Dinge wegschaffen und zum Sperrmüll bringen. Er versprach sich ein günstiges Datum für diese Massnahme zu überlegen und Bescheid zu geben und schien unser Angebot dankbar anzunehmen.
Fachleute haben gewiss rasch eine Erklärung oder einen Namen für die einsame, schwer therapierbare Sammelwut von Menschen, denen die Gegenwart von Objekten wichtiger ist als die von Menschen. Die meisten Menschen leben damit unerkannt unter uns, nicht jede und nicht jeder lässt sich so gelassen in die Karten schauen wie Habe; die meisten horten ihre wertlosen Schätze so grimmig wie verschämt im Verborgenen.
Die rasende Grenzenlosigkeit
An Habe musste ich denken, als kürzlich der Postbote ein Paket bei uns im Hause ablieferte. Der über uns lebende Professor hatte sich wieder einmal etwas bestellt. Es wurde ihm innerhalb von weniger als achtundvierzig Stunden ins Haus geliefert, so wie uns auch schon in den vergangenen Monaten und Jahren alles Mögliche, Brauchbares und Unbrauchbares, Sinnvolles und Überflüssiges, Wichtiges und Unwichtiges geliefert worden war. FFP2-Masken aus China, als es diese in Deutschland kaum gab, Mobiltelefone und Bücher, Pullover und Hosen, Ladekabel und Laubsäcke. Etliches war darunter, was man noch vor wenigen Jahren ausschließlich im Laden kaufen konnte, wo man es heute schwerlich finden würde.
Der Unterschied zu den Fernkäufen, die man früher zur Zeit meiner Eltern mit dem Neckermann- oder Quelle-Katalog tätigte, besteht nicht nur in der inzwischen grenzenlosen Auswahl, sondern auch in der Geschwindigkeit mit der man seine Kaufentscheidungen trifft. Meist erfolgen sie nur wenige Minuten, ja Sekunden nach der Eingebung, dass man dies oder jenes gebrauchen könnte.
Während meine Mutter noch Bestellzettel ausfüllte, Briefe frankierte und diese zum Briefkasten tragen musste (und Entscheidungen selbst dort noch rückgängig machen konnte), kann ich jederzeit innerhalb kürzester Zeit von jedem Ort der Welt aus bestellen und bezahlen, wonach es mich gelüstet.
Wie gross die Freude meiner Mutter war, wenn sie nach Tagen die gewünschte Ware in Empfang nehmen durfte, wird von deren Qualität und Brauchbarkeit abhängig gewesen sein. Enttäuschungen waren nicht zu vermeiden. Heutige sinnlose Verschwendungssucht hätte sie natürlich entsetzt. Im Gegensatz zu Habe wußte meine Mutter die Einmaligkeit einer Sache zu schätzen, während für Habe nur die Masse zählt. Seine Befriedigung liegt in der anbrandenden, unbegrenzten Menge. Er kennt allein die Einwegwirtschaft, die in einer Sackgasse endet. Seine Anhänglichkeit an die Welt der Objekte erlaubt keine Kompromisse, kein Loslassen, kein Wegwerfen. Die Dinge müssen bei ihm bleiben, ungeachtet ihrer Bedeutungslosigkeit. Ihm sind sie alle gleich wichtig.
Es gibt das Glück des Sammlers.
Und es gibt das Unglück dessen, der nichts mehr loslassen kann.
Göttingen, 09.08.2019





_edited.jpg)
Kommentare