Das Politwächtertum unserer Tage - Willkommen in der Gesellschaft der Gegenwart
- Hendrik Bicknäse

- 16. Aug. 2020
- 4 Min. Lesezeit
Hierarchien wurden deutlich flacher. Lehrer, Pfarrer und Polizisten haben ihre Aura als Respektspersonen schon lange verloren. Was der Soziologe Helmut Schelsky Anfang der 50er Jahre prophezeite, ist Wirklichkeit geworden. Das schlägt sich auch in der Alltagskultur nieder: Altehrwürdige Unternehmen schmeissen sich mit einem platten Du an ihre Kundschaft ran. Solide Manager geben sich sportiv in Sneakern und Theaterintendant*inn*en sind mit dem Hoody auf dem Elektroroller unterwegs.
Was einmal gute Manieren waren, wird als Einschränkung persönlicher Autonomie wahrgenommen. Der autoritäre Charakter, unter dem in den 50er und 60er Jahren so sehr gelitten wurde, scheint endgültig ausgedient zu haben. Nie, so scheint es, lebten wir in einer freieren Gesellschaft.
Auf der anderen Seite erleben wir eine neue Flut von Ge- und Verboten, Vorschriften und Autoritäten. Rauchen, Trinkverhalten und Ernährung sind seit Langem in das Visier von Regulierungsfanatikern geraten. Denen es offensichtlich eine tiefe Befriedigung verschafft, ihren Mitmenschen vorzuschreiben, wie sie zu leben haben. Fernreisen, Kreuzfahrten gelten zunehmend als verdächtig, vom Autofahren ganz zu schweigen.
Mehr noch steht aber die freie Rede, der offene Meinungsaustausch und das unkuratierte Denken unter der gestrengen Observanz eines politmoralischen Gouvernantentums. In den traditionellen Medien und im Kulturbetrieb herrscht häufig ein belehrender Ton. Und nicht nur Intellektuelle unterscheiden zunehmend zwischen ihren privaten Ansichten und dem, was sie öffentlich noch zu sagen wagen. Die antiautoritäre Gesellschaft zeigt ihr autoritäres Gesicht. Wie kam es dazu?
Auslöser dieser Entwicklung sind paradoxerweise die zentralen Anliegen von Aufklärung und Liberalismus: Emanzipation und Selbstbestimmung. Denn in der gesellschaftlichen Praxis mündet das Ideal freier Selbstverwirklichung zunehmend in das narzisstische Verlangen, für jeden möglichen Lebensentwurf Applaus und Bewunderung zu ergattern. Wird dieser Zuspruch nun versagt oder gar Kritik geäussert, empfindet dies der sich selbst verwirklichende Mensch als narzisstische Kränkung, als Diskriminierung, als emanzipationsfeindlich.
Das aber darf nicht sein, da so das Grundversprechen der Aufklärung auf uneingeschränkte Selbstbestimmung in Gefahr gerät. Also bedarf es der Sprachregelungen und Verhaltensweisen, die Kritik an emanzipatorischen Projekten ganz unmöglich machen. Dabei liegt es in der Logik egalitärer Gesellschaften, dass der Mitbürger und Nachbar mit digitalen Medien über die Einhaltung dieser neuen Regeln und Normen wacht. Indem er so Haltung zeigt, wird er zum Repräsentanten der Zivilgesellschaft geadelt.
Da aber auch egalitäre Gesellschaften Fachleute für das richtige Verhalten brauchen, bilden sie neue Autoritäten aus. Nun ist es nicht mehr der Professor, der Meister oder der Polizist, sondern die Diversity-Beauftragten und die Antidiskriminierungsstelle. Ihre Macht liegt nicht in der Tradition eines Berufsstandes oder gar einer fachlichen Qualifikation, sondern vor allem in ihrer ideologischen Gesinnung. Diese ist deshalb so wirkmächtig, weil sie vollständig mit den Idealen und dem Lebensgefühl einer hedonistischen Konsumgesellschaft kompatibel ist. Wertvoll ist demnach alles, was der persönlichen Sinnsuche dient: Offenheit, Diversität, Vielfalt. Als verdächtig gilt demnach alles was einschränkt und als diskriminierend empfunden werden kann – und das kann, je nach Vorliebe des Betroffenen, so ziemlich alles sein.
So erwächst aus dem ursprünglich antiautoritären Impuls der Aufklärung schliesslich das Politwächtertum heutiger Tage. Der autoritäre Charakter, einst Feindbild aus den 60er Jahren, ist wiederauferstanden.
Für Erich Fromm, einem der grossen Vordenker der Kulturrevolution der 1960er Jahre, war es vor allem die Überforderung durch die Freiheit, die Menschen letztlich in Unterwürfigkeit, Konformismus und Gehorsam treibt. Hier präge sich, so Fromm, der autoritäre Charakter aus, der in der Identifikation mit der jeweils herrschenden Ideologie und ihren Repräsentanten seine Ohnmacht und Unsicherheit kompensiere.
Vor dem Hintergrund seiner eigenen historischen Erfahrung dachte Fromm dabei vor allem an den Faschismus. Was er nicht ahnte: Antifaschismus und Anti-Autoritarismus können ebenfalls zu einer herrschenden Ideologie mutieren, mit der sich der autoritäre Charakter aus Unterwürfigkeit und Gehorsam identifiziert.
Auch Theodor W. Adorno verengte unter dem Eindruck des erlebten Nationalsozialismus das Profil der autoritären Persönlichkeit weiter auf den konservativen, prüden, menschenverachtenden und faschistoiden Kleinbürger. Allerdings zeigen die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, dass auch unter freizügigen Weltbürgern der autoritäre Charakter gedeiht. Denn gerade der progressive und engagierte Kosmopolit unserer Tage versucht seine Ängste mittels Dogmatismus, Unterwürfigkeit und moralischer Orthodoxie zu kompensieren. Nur dass diese eben nicht prüde und verklemmt daherkommen, sondern spassorientiert und scheinbar weltoffen.
Wie in einer hedonistischen Konsumgesellschaft nicht anders zu erwarten, ereifert sich der autoritäre Charakter heutiger Tage nicht über laute Musik, Kindergeschrei oder ungepflegte Vorgärten. Bürgerliche Tabus hinsichtlich Sexualmoral und Drogenkonsum verlacht er weltmännisch. Stattdessen empört er sich über schlecht getrennten Müll und SUV-Fahrer, über angebliche Sexisten und Leistungsethiker aller Art.
Es war Herbert Marcuse, ein weiterer Vordenker der 60er Jahre, der die Toleranz der bürgerlichen Gesellschaft als im Kern repressiv entlarvte, da sie wirkliche Opposition marginalisiere. Seine modernen Adepten geben sich jedoch nicht einmal die Mühe, Toleranz auch nur zu heucheln. Die Emanzipierten unserer Tage haben aus ihrem Sieg über die repressive Toleranz des alten liberalen Bürgertums gelernt, dass nur rigide Intoleranz in der Lage ist, Macht zu sichern und den vorpolitischen Raum der Diskurse zu beherrschen. Ihre Pointe besteht darin, dass sie diese Intoleranz als Toleranz ausgeben.
Ihren politischen Gegnern begegnen sie daher mit konsequenter Ausgrenzung, Diskreditierung, gezielter Delegitimierung und allen Techniken der Meinungsmache. Der autoritäre Charakter ist durch die gesellschaftlichen Umwandlungsprozesse der letzten Jahrzehnte nicht verschwunden, er hat lediglich die antiautoritäre Rhetorik übernommen und in ihr Gegenteil verkehrt.
Diese Intoleranz droht zu einer Gefahr für die Demokratie zu werden, eben weil sie sich als deren Verteidigerin aufspielt. Gegen diesen Ungeist von Neopuritanismus und Neoautoritarismus helfen nur Mut, Neugier und die Anarchie des freien und unvoreingenommenen Denkens. So paradox es klingt: Es braucht ein neues 68, nur diesmal andersherum.
Göttingen, 17.08.2020





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