Über Freundschaft
- Hendrik Bicknäse

- 9. März 2023
- 2 Min. Lesezeit
Für wahre Freundschaft gibt es keinen gemeinsamen Nenner, keine übergreifende Definition. Eine einzige Definition oder eine einzige Beschreibung lässt die Vielfalt möglicher Geschichten und Formen von Freundschaft nicht zu. Allein den freien gemeinsamen Wunsch, ohne jegliche Verpflichtung und ohne jeden praktischen Zweck oder unwiderstehliche Begierde miteinander Zeit zu verbringen, teilen sie alle. Verwandtschaft dagegen oder berufliche Zusammenarbeit oder etwa erotische Leidenschaft gehen nicht im Begriff von Freundschaft auf. Wo sind die Namen der wahren Freunde, der „Herzensfreunde“ wie man früher sagte, jener Freunde, deren Gegenwart uns nicht nur in der Nähe sondern ebenso in geografischer Ferne in starkem Masse belebt?
Freundschaft wird uns oft erst bewusst, wenn äussere und manchmal unvermeidliche Anlässe zur Gemeinsamkeit schwinden. Auch die inneren Gründe zur Freundschaft sollten eher unbestimmt bleiben. Nicht selten setzt Freundschaft auf den Rhythmus von Ritualen, die ihr Zeit für Begegnungen schenken. In einem Alltag voll bindender Zwecke macht es gerade die Faszination von Freundschaften aus, dass sie sich allein auf eine Sehnsucht nach Fortsetzung verlassen. Gewiss wird man einem langjährigen Freund vertrauen und sich für ihn engagieren. Doch nur wenn daraus keine Ansprüche entstehen, erneuert und stärkt jeder Schritt von Engagement und Vertrauen die Lust an Gemeinsamkeit.
Wie die Freundschaft in ihrer Distanz zu Pflichten und Zwecken nie zu den Kategorien des Rechts gehören kann, so hält sie Abstand gegenüber ehrgeizigen Erwartungen. Ein Freund muss nicht „den ganzen Menschen“ in seinem Gegenüber schätzen. Es reicht, Eigenheiten zu akzeptieren. Solange der Spontaneität von Freundschaft nicht drastische soziale Hierarchien, wirtschaftliche Asymmetrien oder Bildungsunterschiede im Weg stehen, erübrigt es sich, Gleichheit als Voraussetzung für Freundschaft einzuklagen. Nicht einmal die abnehmende Vitalität von Freundschaften und ihr Ende bedürfen einer expliziten Bilanzierung und Erklärung, da sie nie an öffentliche Kriterien und ihre Versprechen gebunden sind.
Je freier von irgendwelchen Bedingungen und Werten Freunde immer wieder auf ihren Wunsch nach gemeinsamer Zeit eingehen, desto weiter wird die Freude an seiner Erfüllung wachsen. Dies ist die elementare und maximale Schönheits-Formel der Freundschaft. Schon kleine Zugeständnisse an Selbstverpflichtung – wie die Rede vom „Pflegen“ der Freundschaften – beginnen, solche Schönheit einzuschränken.
Brieffreundschaften zwischen intellektuellen Freundinnen und Freunden, wie ich sie in meiner Studienzeit und während meiner Arbeit als Journalist und Schriftsteller erlebe, pflegen gerade in den deutschsprachigen Kulturen die romantische Intensität solcher Beziehungen, in dem die „Tiefe“ von Freundschaft vor dem Kontrast „oberflächlicher“ Alltagsbeziehungen zu einer besonderen Form aufsteigt. Bis heute wird dieser Status von Freundschaft vor allem in Deutschland als ein nationaler Wert erfahren.
Allgemein ist nun eine verflachte Version von Freundschaft nicht nur hierzulande zu spüren, die zur dominanten Form des Alltagslebens werden könnte. Eine Freundschafts-Inflation ist in Gang gekommen. Woran das liegt? Sie bildet, so meine ich, eine zunehmende Phobie gegenüber Strukturen sozialer Hierarchie im öffentlichen Verhalten ab, anders gesagt: eine Gleichheitsbesessenheit. Eltern wollen ihren Kindern und Vorgesetzte ihren zugeordneten Angestellten „Freunde“ sein. Sogenannte „Patchwork-familien“ blenden den Unterschied zwischen nur juristisch bestehender Verwandtschaft und Freundschaft aus und erotische Leidenschaften werden zu Episoden in Freundschaftsbeziehungen heruntergespielt.
Intensität entsteht jedoch gerade aus den besonderen Freundschaften und aus jener schönen Unbestimmtheit, die keine Anlässe, keine Normen oder Gründe für ihre Begegnung benötigt, welche wir dann als Freiheit individueller Sehnsucht nach Nähe erleben dürfen. Inflations-Symptome und lange Freundeslisten unterlaufen die Schönheit von Freundschaft. „Tausend allerbeste Freunde“ kann sich niemand leisten.
Göttingen, 09. März 2023





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