Zur Opfer-Tyrannei Identitätspolitische Kulturrevolution
- Hendrik Bicknäse

- 26. Mai 2020
- 6 Min. Lesezeit
Die Aktivisten der ‚Cancel-Culture‘* stehen anders als der gutmütige, freundlich sozialliberale oder grüne Kulturrelativist (meine Wahrheit gegen deine Wahrheit) offen dazu, dass sie andere bekämpfen wollen. Das sind eigentlich Trumpisten, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Sie ersetzen die Wahrheitssuche durch einen Kampf gegen Andersdenkende, was sie damit rechtfertigen, dass sie mit den Andersdenkenden nicht mehr reden, ja, sie mundtot machen wollen. Es geht nicht um Wahrheit, denn die ist ohnehin bloss vorgeschoben, es geht immer und überall um Macht. Wer vorgibt, die Wahrheit zu besitzen, der hat es in dieser Logik bloss auf die Macht abgesehen. Und umgekehrt: Wer die Macht hat, der hat die Wahrheit.
Für die Vertreter der Cancel-Culture gilt die Devise: Der Zweck heiligt die Mittel, alles ist erlaubt, wenn es nur dem Machtzuwachs dient, auch der grösste Blödsinn. Das neue Feindbild sind gegenwärtig die weissen, heterosexuellen Männer, so abgedroschen das klingt. Und Politik, Medien und PR-Abteilungen reichen das neue Klischee längst ungefragt herum. Menschen nach Hautfarbe und Geschlecht einzuteilen und mit dem Finger auf sie zu zeigen, ist natürlich Rassismus und Sexismus. Wer weissen, heterosexuellen Männern das Recht auf Wahrheit prinzipiell abspricht, begeht genau den Fehler, den wir doch im Namen des moralischen Fortschritts überwinden sollen. Ziel ist Gleichberechtigung und nicht das Canceln irgendeiner angeblichen Horde weisser Männer.
Auf diese Weise kann den sozialen Tod heute jedermann treffen. Die Gesellschaft hat noch nicht gelernt damit umzugehen. Digital organisierte Shitstorms, egal von welcher Seite, sind gefährlichste Form des Mobbings, weil der Mob sich hinter seinen Avataren und Hashtags verbirgt. Die Spirale ist völlig überdreht: Es reicht ja längst nicht mehr, ein schwuler Mann zu sein, um nicht gemobbt zu werden, sofern man weiss ist. Und eine junge, farbige, lesbische Frau hat auch ein echtes Problem, wenn sie nicht freiwillig bekennt, dass Transmenschen alles sein können, was sie von sich behaupten.
In dieser neuen, pseudomoralischen Hierarchie geht es wohlstandsverwöhnten Akademiker*innen darum, zu bestimmen, wer die meisten Opferpunkte gesammelt hat und wer demgemäss über die grösste moralische Autorität verfügt. Die tatsächliche Instrumentalisierung von echten Opfern des Rassismus, des Sexismus usw. hilft den wirklichen Opfern nicht. Dabei handelt jeder, der sich als Opfer inszeniert, ohne eins zu sein, zutiefst zynisch. An der Spitze dieser angeblichen Pyramide gibt es ständig Streit – was ist nun moralisch höherwertig, schwarz, weiblich oder trans oder letztlich die Transracial-Identität? Welche Eigenschaft ergibt wie viele Opferpunkte?
Es ist schon pervers, wenn eine weiße Frau erfolgreich darin ist, eine Schwarze Person zu sein. Geben wir dieser Dynamik einer Identitäts-Anarchie und eines diskursiven Opfermissbrauchs einen Namen: Sie ist das radikal Böse. Sie kommt als das Gute daher,
* Als ‚Cancel Culture‘ (Absage- oder Löschkultur) wird bei Wikipedia ein systematischer Boykott von Personen oder Organisationen bezeichnet, denen beleidigende oder diskriminierende Aussagen bzw. Handlungen vorgeworfen werden. Wegen der unterstellten gravierenden Auswirkungen gilt der Begriff als ambivalent und ist heftig umstritten.
als ginge es tatsächlich um Ausgleich, also um Gleichheit, um wechselseitige Anerkennung im hegelschen Sinne, die unserem moderaten Rechtsstaat zugrunde liegt. Stattdessen geht es den Aktivisten um das genaue Gegenteil – nämlich um Rache an einem imaginären Feind, der in den Köpfen spukt.
Sie wollen sich für angeblich oder wirklich erlittenes Unrecht rächen und zwar mit neuem Unrecht. Sie erklären Menschen mit bestimmten Merkmalen ohne Hemmungen zu minderwertigen Menschen, indem etwa das Vorurteil verbreitet wird, weisse, heterosexuelle Männer seien anfälliger für Rassismus als andere Menschen. Dieses Vorurteil ist jedoch bereits Rassismus. Daraus ergibt sich eine neue Art des Wohlstandsmaoismus, eine Imitation der Kulturrevolution in der Form einer rassistischen Identitätspolitik. Da werden Leute in die Knie gezwungen und mit einem Schandplakat versehen, damit sie öffentlich Buße für ihre falsche Hautfarbe, ihre Religion oder ihre sexuellen Präferenzen tun. Widerlich. – Es gibt keine Menschenrassen, auch keine weisse Rasse, jedoch gibt es leider Rassismus.
Die identitätspolitische Revolution verschlingt laufend ihre eigenen Kinder. Das irre Mobbing wird hoffentlich irgendwann aufhören, doch wird dies eher übermorgen als schon morgen sein. Die Devise heisst: Durchhalten und sich vom Irrsinn nicht anstecken lassen. Und wenn die digitale Gesellschaft nicht radikal neu organisiert wird, ist die Vernunft irgendwann futsch.
Bei all den vielen Interessen ist es unübersichtlich und ungemütlich geworden. Der postmoderne Feminismus zeichnet sich durch die Gleichzeitigkeit verschiedener Phänomene aus: die Konzentration auf Nebenkriegsschauplätze bei gleichzeitigem Verleugnen echter Probleme. Die Vernachlässigung der Mehrheit durch Aufmerksam-keitsverschiebung in Richtung neuer Minderheiten. Nun dürfen im Opfertopf identitäre Gruppen, sexuelle Minderheiten und gefühlt Diskriminierte in Hauptrollen mitspielen, so sie sich irgendwie benachteiligt fühlen. Das Hauen und Stechen ist in vollem Gange, denn die Opferhierarchie wird gerade neu ausgekämpft.
Die weisse heterosexuelle Hausfrau befindet sich ganz unten, die bisexuelle, schwarze Transfrau kann hingegen mit vielen Opferpunkten glänzen. Talk-Sendungen werden bis auf den letzten Platz nach Quote besetzt: Geschlecht darf keine Rolle spielen – sind genug Frauen da? Hautfarbe darf keine Rolle spielen – wieso sitzen da keine People of Color? Herkunft ist egal – wir brauchen noch einen Migranten! Alter darf keine Rolle spielen – schafft ein Kind herbei! Religion ist irrelevant – schnell noch eine Kopftuch-Muslima her! Sexualität darf keine Rolle spielen – wo bleibt die Lesbe?
Dennoch darf die Existenz eines geeinten Frauenkollektivs nicht infrage gestellt werden, denn dieser Mythos ist schon lange sehr nützlich. So viele leben gut davon, gemeinsam als Opfer aufzutreten. Das ist auch nötig, um drohende Abtrünnige zu binden, Aufmüpfige in ihre Schranken zu verweisen und die Fahnenflüchtigen zu stigmatisieren. Seht, da läuft die böse, böse Schwester, die nicht mitzieht!
Frauen müssen zusammenhalten, gleichzeitig ist dieselbe Bewegung nicht einmal mehr in der Lage, zu benennen, was denn nun eine Frau überhaupt sei. Wann ist eine Frau eine Frau? Wenn DNA, Chromosomen, Biologie, Natur und wissenschaftliche Fakten sich dem gefühlten Geschlecht und selbst definierten Kategorien beugen sollen? Klar ist, dann wird Weiblichkeit zur Phrase, denn das lässt sich gendern. Es ist nahezu absurd überhaupt noch von einer Frauenbewegung zu sprechen, wenn man das Frau-Sein als natürliche Kategorie nicht nur verleugnet, sondern gar bekämpft. Wenn doch niemand mehr wagt, unumstössliche Kriterien der Weiblichkeit überhaupt noch zu benennen, aus lauter Angst, sich eines surrealen, intoleranten Gedankendelikts oder einer ‚Phobie‘ schuldig zu machen. Ist eine Transfrau also eine echte Bio-Frau oder eine Fake-Frau? Und ist nicht allein diese Frage bereits verdächtig?
Frau sein, darf jetzt jeder, der gerne Frau sein möchte. Auch und gerade Männer. Wer sich dem widersetzt, gilt als transphob. Frauen, die widersprechen, werden als ‚Terf‘ (‚trans-exclusionary radical feminst‘) stigmatisiert, weil sie sich dem Raub der Weiblichkeit widersetzen.
Opportunistisch und paradox wird dennoch ständig die ‚Frauenpower‘ beschworen, das „Wir können alles“ und „noch besser als die Männer“. Dieselbe Bewegung verfällt in Opferstarre, wenn es nutzt, um Vorteile aus der angeblich nicht existenten Weiblichkeit zu erlangen. Der angeborene Opferstatus der Frau ist ein Segen für einen ganzen Apparat von Gleichstellungsbeauftragten und Diversity-Experten. Er wird nie aus der Mode kommen. Da ständig neue Opfer geboren werden, wird die Arbeit nicht enden.
Vor hundert Jahren gingen Feministinnen auf die Strasse, um nicht mehr als kleine, wehr- und hilflose Mädchen von der Männergesellschaft behandelt zu werden. Es war ein sehr frühes ’Yes, we can‘, eine kraftvolle Selbstermächtigung der ersten Emanzipations-bewegung. Heute ist es entsprechend ein bedauerlicher Rückschritt, wenn nun wieder so getan wird, als sei frau ein Käfer, der hilflos auf dem Rücken liegt und nur mit fremder Hilfe wieder auf die Füsse kommt. Kämpfte der Feminismus der ersten Stunde noch gegen konkrete Entrechtung und Diskriminierung, ist der Opferstatus heute durch das ominöse ‚System des strukturellen Sexismus‘ manifestiert.
Dabei wird das Dogma der unbefleckten Opferweiblichkeit mancherorts härter verteidigt als die Jungfräulichkeit Marias in der katholischen Kirche. Das ist strategisch eminent wichtig zur Begründung aller Sexismusdebatten, die wir bereits erlebten und die noch weiter kommen werden. Gefühlte Belästigung gewinnt damit bereits Anklagestärke. Fakten sind egal, solange eine Frau weiss, wie sie sich gefühlt hat. Oder will jemand behaupten, eine Frau lügt?
Da die Klassengesellschaft nach Marx durch Wohlstand relativiert wurde, bleibt auf der Täterseite abseits sexuell und kulturell vielfältiger Gruppen also nur noch einer übrig: der alte, heterosexuelle, weisse Mann als Hüter des Patriarchats, als traditioneller Kolonialist, immerwährender Sexist und gieriger Kapitalist. Hoch lebe die Renaissance der Erbschuld.
Die Massenvergewaltigungen an Frauen in Indien und die Steinigungen an Frauen in islamischen Gesellschaften anzuprangern, ist entsprechend Rassismus, denn die kultursensible Kulturrelativistin und Feministin weiss, das ist keine Unterdrückung der Frau, sondern bloss ein ‚kultureller Unterschied‘. Wie wunderbar für die Frauen in Pakistan und im Iran! Diese wollen übrigens keine Opfer mehr sein. Ihr Feind ist nicht alt, weiss und männlich, sondern auch jung, farbig und verwandt. Dass sie das ständig in Erinnerung rufen und damit das hübsch gezimmerte Feindbild des westlichen Wohlstandsfeminismus ruinieren, kommt hier nicht so gut an, weswegen ihnen das westliche Frauenkollektiv zur Strafe auch die Unterstützung versagt.
Das einzig Kollektive an der Frauenbewegung ist also möglicherweise, dass ihre Toleranz über den selbst als richtig empfundenen Lebensweg nicht hinausreicht. Damit wird konsequent und andauernd das verraten, was einst erklärtes Ziel der Frauenbewegung war: dass Frauen frei entscheiden, wie sie leben wollen. Früher gegen den Willen von Männern. Heute leider gegen den Willen anderer Frauen. Die Theorie vom ‚Ende der Geschichte‘ ist auch für die Geschichte des Feminismus nur ein Mythos. Die in einer Endlos-Schleife aufgeführte Opfer-Tyrannei will nie enden.
Göttingen, 27.05.2020





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