top of page

Zonen der Beschädigung

Aktualisiert: 14. Juli

Wer es wagt schwarzzusehen, ist bloss der Spielverderber. Aber wir müssen klug genug sein, unsere Position immer wieder zu hinterfragen und zu revidieren.


Von der Migration sowie von Vorgängen der Ein- und Ausgrenzung über Kampfzonen im Inneren der Staaten und Länder bis zum schaurigen Geschäft junger Gotteskrieger – das wuchs zu einem Themenbogen heran, der uns längst und zunehmend in seinen Bann zwingt. Bereits drei Jahre nach dem deutschen Jubeljahr 1989 und der wundersamen „Wende“ sah der Beobachter der Alltäglichkeiten eine härtere Wendung voraus: diejenige hin zu unruhiger Mobilität vor dem Hintergrund von Fluchten und Plänen zur Flucht in ein anderes, besseres Leben. Das war der Auftakt.


Aus weiter Ferne mag Kants aufgeklärte Utopie eines ewigen Friedens grüssen. Doch wenn nach Verwandtschaft im Philosophischen zu suchen wäre, läge Thomas Hobbes viel näher am Weg. Zusammenleben unter Menschen gehorcht – nicht überraschend – der Selbsterhaltung von Einzelnen und Gruppen, entwickelt sich zu Formen höherer Ordnung und Komplexität, ist allerdings dadurch auch anfällig für Störungen und Umstürze und läßt schon aus historischer Perspektive erkennen, dass Begriffe wie Fortschritt oder Erfolg mit der allergrössten Vorsicht aufzugreifen sind. Es gibt keinen Plan und keine Versicherung dafür, dass die Menschheit oder Teile von ihr immer vernünftiger und anständiger würden.


Somit dürfen wir uns verabschieden von einer Geschichtsphilosophie, die etwa will, dass der zivilisatorische Prozess hin zu einer befriedet humanisierten Gattung unumkehrbar sei. Es ist richtig: Viele Menschen leiden unter dem Diktat modernitätsspezifischer Veränderungen, die Jobs überflüssig, Gewohnheiten obsolet und Glaubensriten lächerlich machen. Es ist falsch, solche Verluste und Verunsicherungen nur unter Aspekten von Anpassungskrisen zu beurteilen.



Gegen verordnete Zuversicht


Denn zu tief und zu zerrissen verlaufen die Kluften zwischen dem Terrain der Sicherheit, wie es in westlichen Gesellschaften schliesslich wieder ausgebildet und gefestigt wurde und jenem anderen „Kontinent“, auf dem sich Unzufriedene und Aggressoren, Gotteskrieger und Amokläufer, Anerkennung suchende und überhaupt die Agenten des Aufruhrs tummeln. Global ist der grosse Graben ohnehin nicht zuzuschütten; doch mehr noch: Auch regional, ja bis hinein in die Zentren echter oder schon prekärer Urbanität öffnen sich rasch weitere Risse. Der Spaltpilz sitzt im eigenen Haus. Nur der purste Zufall sorgte hierzulande zumeist dafür, dass es nicht zum Äußersten kam. Doch sein Gegenspieler, das Kalkül, schläft nicht.


Zu zugespitzt, zu aufgeregt, zu apokalyptisch erschienen diese Reflexionen noch vor wenigen Jahren dem intellektuellen Milieu. Heute lesen sich Gedanken über Migration, Massenwanderung und Xenophobie wie Berichte über Zustände, die definitiv in der Wirklichkeit angekommen sind. Sozialtherapeuten, die mit bewunderungswertem Einsatz ihre Arbeit tun, mag noch immer stören, was der Anthropologe zu sagen hat: Dass Leben und Zusammenleben auf diesem Planeten einem chaotischen Prozess entsprechen und Gruppenegoismus und Fremdenhass als Konstanten der Geschichte zu begreifen sind. Aber es trifft in der Regel schon zu: Bereits kleine Störungen des chemischen oder geologischen Gleichgewichts vermögen Reaktionen auszulösen, die uns alle kaum mehr in der Balance reinster Menschenfreundlichkeit halten können.


Claude Lévi-Strauss, der brillante Ethnologe, hat nachgewiesen, dass der Begriff der Menschheit späteren Datums ist. Viele Stammesgesellschaften wissen mit ihm auch heute nichts anzufangen. Natürlich besitzt er als Wort den Charakter eines moralischen Begriffs. Doch fast immer prallen die Realitäten an ihm ab. Niemand will hören, wer mit seinem Frust unterwegs ist oder schliesslich aus dem Ressentiment einer als übel empfundenen Nähe mit anderen als Brandstifter und Totschläger gegen Asylsuchende ausholt.



„Molekularer“ Bürgerkrieg


Wie treten wir dem entgegen, wenn es mit dem Frieden bergab und mit der Wut bergauf geht? Die marodierenden Banden, die über die Seiten ziehen, lassen manchen eher an den Dreissigjährigen Krieg denken als ans Hier und Heute.


Falsch. Es wird nur wiedergegeben, was nun an so vielen Orten geschieht. Der öffentliche Raum hat sich in den Städten und Agglomerationen in Zonen der Beschädigung verwandelt, von zerstörten Bauten über zerstörte Infrastrukturen bis zu zerstörten Asylheimen und kaputten Hoffnungen auf menschenwürdige Zustände auch für Immigranten. Häufig geht es um nichts – das heisst: um nichts anderes als um die Lust aufs Schlagen und Wüten. Dieser Zerfall ganzer Territorien, den wir von den Banlieues bis in die Suburbs beobachten können, ist „molekulare“ Form des Bürgerkriegs – die Frühform aus Menschen und Dingen, die aus der Ordnung geraten.


Bei zunehmender Freude an der schieren Gewalt. sind Zwecke kaum zu erkennen; Mittel sind rasch zur Hand. Rousseau und seine zahlreichen späten Nachfahren sehen hier durchweg unerschöpfliches Potenzial für soziale Entwicklungshilfe – mit Blick auf die realen und potenziellen Täter nehmen sie überwiegend Fehlpässe durch die „Umgebung“ wahr.


Wer die Schreckensmänner des Terrorismus als „radikale“ Verlierer begreift, sollte aus der Gegenwart lernen: Die Zeit hat weiter Geschichte geschrieben, und was uns mittlerweile begegnet, sind zunehmend junge Männer und junge Frauen, die, aus mittelständischen Verhältnissen stammend, der Faszination des Fundamentalismus unterliegen und sich als lebende Bomben anheuern lassen. Ihr Verlust ist die freiwillige Abkehr vom Milieu der Gewohnheiten. Ihr Gewinn soll Unsterblichkeit im Dienst von Idealen und Göttern sein, die dazu immer schweigen.


Da kommt noch Manches auf uns zu, was die bislang so bekenntnisschwachen Gesellschaften westlicher Vernünftigkeiten durchrütteln und auf die Probe stellen wird. Wir sollten es wagen, der Schönfärberei abzuschwören und sie abzulaugen, damit die Schrift an der Wand endlich für Viele sichtbar wird: Die Menschheit ist nicht bereit, sich mit dem Frieden abzufinden.


                                       

Göttingen, 18.03.2018

 
 
 

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
Über Freundschaft

Für wahre Freundschaft gibt es keinen gemeinsamen Nenner, keine übergreifende Definition. Eine einzige Definition oder eine einzige...

 
 
 

Kommentare


bottom of page