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Wem gehört mein Körper, wem meine Gesundheit?

Impfgegner werden gerne dämonisiert, dabei kann man ihre Haltung als Protest dagegen verstehen, dass der Begriff von Gesundheit zunehmend stärker durch das normierte Körperbild der Medizin definiert wird.

1974 erschien mein Essay „Götter in Weiß“, in welchem ich das Verhältnis allmächtig erscheinender Ärzte ihren Patienten gegenüber kritisch beschrieb: Den Arzt in seiner Sprechstunde sowohl als Person als auch Institution. Damals forderte ich die notwendige Begegnung auf Augenhöhe für beide Seiten ein. Bald darauf erschien von Ivan Illich das damals vielbeachtete Buch „Nemesis der Medizin“ mit dem deutschen Untertitel „Die Enteignung der Gesundheit“.

Darin wirft Illich den Medizinern vor, sie verkehrten ihr altes Motto „Vor allem nicht schaden“ ins Gegenteil. Die Gesundheit, unveräusserlicher persönlicher Besitz, den die moderne technisierte Medizin gerade durch ihren Vormarsch antaste und gefährde, „eignet“ einer Person. Darin wird die nostalgische Vorstellung der Heilkunst beschworen, die vor allem auf die eigenen Kräfte des Körpers abstellt. Diese These findet heute ihr Echo etwa in Appellen an das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, woraus man ein entsprechendes Recht auf Gesundheit ableitet. Impfen ist so gesehen, nicht nur ein Akt des „Versehrens“, sondern ein Verstoss gegen ein Menschenrecht.

War mir die Selbstermächtigung des Patienten gegenüber dem Heilenden als emanzipa-torischem Akt wichtig, so war es Illichs These, Gesundheit sei Eigenbesitz.

Gesundheit ist freilich nie blosser Eigenbesitz. Natürlich hängt meine Gesundheit von meinem individuellen Metabolismus ab. Wobei Metabolismus ja gerade bedeutet, dass mein Körper nur im ständigen „Austausch“ mit anderen Körpern normal funktioniert. Das muss man nicht bloss stofflich, sondern auch symbolisch verstehen.

Unser ganzer sozialer und kultureller Verkehr ist ein ständiger Austausch, basierend auf unseren Körpern als dessen Medium. Wir bilden in einer Gemeinschaft stets eine Art von Überkörper. Wir sind eingebettet in tradierte Verhaltensrepertoires, die auch ein implizites „Diktat“ auf unsere Körper ausüben, über Normen, Sitten, Bräuche, Moden und Etikette.

Ich bin nicht einfach mein Körper, ich bin zu meinem Körper auch immer erzogen worden, in Hygiene, Ernährung, Sexualität, sozialem Umgang. Und es ist denn auch nicht bloss eine funktionierende Physiologie, sondern ein in sie „eingeschriebener“ Lebensstandard, der Gesundheit und Wohlbefinden gewährleistet.

Genau bei diesem sozialisierten Körper setzt die radikalste Kritik der modernen Medizin an, jene von Michel Foucault. Und sie erweist sich heute - buchstäblich - als äusserst virulent. In Foucaults Sicht ist moderne Medizin nie nur auf der zwischenpersönlichen Achse Arzt – Patient angesiedelt, sondern immer schon sozial imprägniert. Und aus den Worten des Arztes spricht die Autorität seiner Disziplin; nicht einfach „Das ist dein Zustand“, sondern „Das sollte dein Zustand sein oder nicht sein“.

Das bedeutet, die Medizin hat ein normatives, zumal staatlich legitimiertes Körperbild, auf dem Diagnostik, Prognostik, Prophylaxe und Therapie beruhen. Es stammt aus der Biologie: Der Körper ist ein komplexes organisches System. Dieses Körperbild habe ich, ob ich will oder nicht, zu akzeptieren; ich habe mich mit ihm unter klinischen Bedingungen – zum Beispiel in einer Comutertomografie – sogar zu unterwerfen.

Der Pferdefuss liegt darin, dass die Medizin ihr Körperbild fortgesetzt mehr und mehr aus der Klinik in soziale Felder transportiert, die nur noch entfernt mit der Aufgabe des Heilens zu tun haben. Wir erleben eine „Medizinisierung“ der Gesellschaft. Damit sind nicht einfach nur die zweifellos bahnbrechenden neuen Untersuchungs- und Heilmethoden einer verwissenschaftlichten Heilkunde gemeint, sondern ein ganzer Komplex von sozialen Praktiken und Strategien, die damit verschränkt sind: Untersuchen, Pflegen, Verwalten, Überwachen, Optimieren, Disziplinieren. Heute beobachten wir die Medizinisierung anhand vieler – zum Teil sehr beunruhigender – Symptome. Drei von ihnen seien hier kurz angeführt:

Zunächst die Medikalisierung. Der Pharma-Markt überschwemmt uns mit Medikamenten. Gegen immer mehr Gebrechen gibt es eine „Pille“. Dieser Pillenblick beruht auf einer besonderen Kozeption von „störenden“ Verhaltensweisen. Wenn mich unkontrollierte Zornesausbrüche heimsuchen, kann ich zum Störfall werden. Nun geraten meine Zornesausbrüche in die Optik der Pathologisierung. Und schon gelten sie als „intermittierende explosible Störung“.

Dagegen hilft vielleicht ein Medikament. Ähnlich sehen sich zahlreiche Verhaltensweisen auf einmal als medizinisches Problem diagnostiziert. Klinische Deutungen und Diagnosen fliessen zunehmend in den Blick auf uns selbst ein. Das Medikament übernimmt eine disziplinierende Aufgabe. Und in diesem Sinn sekundiert die Medizin einer Sozialtechnologie, die immer auch eine Beeinflussung und Lenkung individueller Lebensweisen anvisiert.

Eng damit verbunden ist der zweite Aspekt. Die hochentwickelte Biotechnologie mutiert von der Heilkunst zur Optimierung der Körpermaschine, zu ihrer Steigerung oder Erhöhung. Bei dieser Vorstellung von Verbesserung appliziert man zum Beispiel seit längerem Wachstumshormone bei Kindern, die aufgrund eines hormonellen Defizits kleinwüchsig sind. Diese Hormone wirken auch bei Kindern ohne Defizit. Eltern können nun je nach ihren Vorstellungen und Begehrlichkeiten Nachkommen nach Mass konzipieren: zum Beispiel einen Sohn a la Michael Jordan. Was ursprünglich als Mittel gedacht war, ein biologisches Defizit zu beheben, wird am Ende zum Werkzeug, die Biologie nach eigenen Vorstellungen durch wunscherfüllende Eingriffe zu korrigieren. Eltern „konzipieren“ ihr Kind dann nicht mehr im Sinne der Geburt, sondern buchstäblich als Entwurf.

Die sogenannte Schönheitschirurgie, immer stärker in den öffentlichen Medien präsent, ist eine weitere Form der Selbstoptimierung, um „vom hässlichen Entlein zum schönen Schwan“ zu mutieren, wird durch Werbung in den Köpfen derjenigen verankert, die ihr Heil vor allem in äusserer Selbstdarstellung suchen.

Schließlich, drittens, die Überwachung: Seuchen bot man traditionell Einhalt durch Disziplinierung der Bevölkerung, etwa mittels Durchsetzung von Hygiene-Vorschriften, Identifizierung von Ansteckungsherden und Kontrolle der Infektionswege. Totalitäre Regime praktizieren heute diese Seuchenpolitik, indem sie das Regieren zur „medizinischen“ Aufgabe pervertieren. Kritik aus der Bevölkerung gefährdet die „Gesundheit“ des Systems. Sie erscheint dann als „pathogen“ und provoziert adäquate politische „Immunabwehr“. Sind viele Bürger unzufrieden mit dem Regime, handelt es sich um eine „Epidemie“. Dann schickt man eine Armee von künstlich-intelligenten Tracking-Polizisten zur Identifizierung von „infizierten“ kritischen Bürgern los.

Der körpermündige Citoyen sagt: Ob ich krank werde oder nicht, ist meine Sache! – Fälschlich interpretiert dieser Bürger heute seinen Trotz gern als Ausdruck eines Freiheitswillens. Aber der Freiheitswille des individuellen Körpers erreicht irgendwann die Schwelle, wo er die Stabilität des sozialen Überkörpers stört und gefährdet – und damit wiederum auch sich selbst. Komplexitätsforscher sprechen von der „Kritikalität“. Geringfügigste Änderungen in einem Gesundheitssystem können zu unvorhergesehenen Ereignissen – vielleicht zum Kollaps – führen. Eine Massnahme wie Impfpflicht bedeutet also nicht die Errichtung eines „totalitären“ Staates, sondern Entschärfung seiner Kritikalität.

Die Impfskepsis erscheint von daher viel eher als eine Reaktion auf den Standard-Heilansatz der Medizin: die partielle (Selbst-) Entmächtigung des Patienten. Was damit gemeint ist, macht eine Definition des Oxfort English Dictionary deutlich: „Der Patient ist eine Person, die Schmerz, Leid, Unbilden usw. erduldet, gelassen, ohne Unbehagen oder Klage, in ruhiger Erwartung.“

Die ruhige Erwartung ist dem zornigen Unbehagen des Bürgers gewichen, der nicht einfach „Erdulder“ sein will. Er ermächtigt sich selbst. Und zwar nicht in dem Sinn, dass er auf moderne medizinische Behandlung verzichtet, sondern wagt, sich seines eigenen Körperverstandes zu bedienen. An die Stelle des Patienten tritt der körpermündige Citoyen. Körpermündigkeit auch im Sinne von Solidarität – das könnte der Beginn einer aufgeklärten Kultur der Gesundheit und Krankheit sein. Oder doch bloss eine Utopie?


Hendrik Bicknäse

15. Januar 2022

 
 
 

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