Versuch über den Individualismus
- Hendrik Bicknäse

- 3. Jan. 2020
- 4 Min. Lesezeit
Die persönliche Freiheit dient heute als hehre Rechtfertigung für verantwortungsloses Handeln. Wie konnte es dazu kommen, dass sich der Individualismus in eine schlechte Karikatur seiner selbst verwandelt hat? Er, der uns volle Entfaltung unserer Persönlichkeit und unseres menschlichen Potenzials verspricht, uns mehrfach und mehrheitlich von Diktatur, Sklaverei oder aus den Zwängen der Religion befreit hat? Von der romantischen Vorstellung eines Individualismus, die auf dem Denken etwa von Humboldt aufbaut, sind wir heute weit entfernt. Und nicht, weil der Individualismus gefährdet wäre, wie libertäre Querulanten lauthals verkünden, sondern weil er ausser Rand und Band geraten ist. Bei allem Erfolg erweist sich der ungebremste Individualismus heute als Sackgasse.
Anzeichen dafür gibt es überall: Personalisierung und Individualisierung sind Trumpf, ob beim massgeschneiderten T-shirt, Design-Möbel, body-building, beim Sex-Toy oder bei der Schönheits-operation. Natürlich handelt es sich dabei um reine Illusion. Die Behauptung, dass ein Konsumgegenstand zur Individualität seines Käufers beitrage, ist der älteste Marketingtrick. Dass er aber immer noch funktioniert, spricht für die Fitness der Marketingstrategen, nicht aber für die Selbstwahrnehmung der Konsumenten. Sie geben sich der Illusion, anders zu sein, noch so gerne hin und verteidigen diesen Status auf überheblich-aggressive Art. Twitter und andere nicht nur soziale Medien zeugen davon: Jeder glaubt eine eigene Meinung zu haben, die es wert ist, verbreitet zu werden. Und weil sie es wird, kennt die individuelle Selbstüberhöhung keine vernünftige Grenze mehr.
Mit ihrer individuellen Freiheit argumentiert die Mutter, die darauf verzichtet, ihr Baby gegen die Masern impfen zu lassen und der Strahlenphobiker, der einen Funkmast sabotiert, um die Inbetriebnahme von 5G-Antennen zu verhindern. Diesen Tenor hört man häufiger denn je. Eine gewaltbereite Bürgerwehr plant ein Attentat auf eine Gouverneurin im US-Staat Michigan, um die Verhängung einer Lockdown-Verordnung zu rächen. Immer mit dem Verweis darauf, dass die Massnahmen individuelle Freiheitsrechte beschneiden. Regelmässig wird dabei das enorme Misstrauen gegenüber tatsächlichen oder imaginären Eingriffen in die eigene Lebensführung deutlich. Reflexartig wird an den Individualismus appelliert, als wäre er ein ausreichender Legitimationsgrund für mehr oder weniger verantwortungsloses Handeln im Namen der persönlichen Integrität.
Nur: Der Individualismus ist nicht die Lösung gesellschaftlicher Übel, sondern zunehmend das Problem. Bei allem Erfolg erweist sich der ungebremste Individualismus - gerade aus den USA - heute als Sackgasse. Der Siedler, der mit nichts außer der Hoffnung auf Lebensraum und eine Existenzgrundlage in die Wildnis des Westens zog, hatte zäh zu sein. Seine Selbstgenügsamkeit manifestierte sich in einer Allergie gegen jegliche Form von Interventionismus. Das freiheitsliebende bewaffnete Siedlerprinzip wurde zur Staatsräson mit einer politischen Kultur, die individuelle Rechte als unantastbare Prinzipien betrachtet und in der soziale Rechte als ketzerisch gelten. Sie stellen eine Schranke dar, und Schranken verletzen die Prämisse, dass alles unbegrenzt weitergehen kann. Anspruch war später, den einzelnen Bundesstaat auf einen Zustand ‚primitiver Einfachheit‘ zu reduzieren, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der maximalen individuellen Freiheit. Dies Prinzip setzte sich im weiteren Verlauf der amerikanischen Innen- und Aussenpolitik durch.
Ebenso erfolgreich war es als ideologisches Exportprodukt, das vor allem der sehr spezifischen Frontier-Erfahrung zu verdanken war. Es verdrängte die europäische Tradition des Freiheitsgedankens zunehmend, auch gegen das Schreckgespenst sozialstaatlicher Bürokratie. Ausgerechnet der progressive Mainstream fährt heute eine knallharte Isolationsstrategie und ist damit mindestens ebenso für die Misere des Individualismus verantwortlich wie die libertäre Rechte.
Warum? Zum einen, weil er die Schutzwürdigkeit individueller Freiheit immer weiter ausdehnt und damit hyperspezifisch macht. Dazu gehört etwa die Forderung nach einem dritten Personalpronomen für Transgender ebenso wie die Einführung von ‚safe spaces‘ für konfliktscheue jüngere Menschen, die keine Kritik vertragen.
Zum anderen auch, weil das linke Establishment dem Märchen von der Rhetorik des Aufstiegs, also der Chancengleichheit aufgesessen ist, in dem es jeder schaffen kann, der hart genug an sich arbeitet. Die Sprache dieses Märchens hat ein toxisches Leistungsdenken herangezüchtet, dessen Verlierer ebenjene sind, die aus Desillusio-nierung der Neuen Rechten den Weg geebnet haben.
Im Zeitalter des Zorns
Aufgepeitscht von Populisten, die sich selbst als Outsider feiern, besinnt sich ein ehedem schweigender Teil der Bevölkerung nun plötzlich auf seine Rechte, die er primär als Freipass für zivilen Ungehorsam und Selbstjustiz auslegt. Schauen wir uns Videos von Maskengegnern an, die ganze Supermärkte stürmen und demolieren. Ganz egal, wo man hinschaut, entlädt sich die Wut der Frustrierten, Übergangenen und Abgehängten auf das nicht genauer definierte ‚System‘. Dieser heute praktizierte Individualismus gewinnt seine Identität und Existenzgrundlage nicht aus einer inneren Überzeugung. Er definiert sich vielmehr via Konfrontation und Ablehnung. In den USA ist die Saat des Hasses zu einer hochgiftigen Blüte gereift. Eine Ablehnung, die sich gegen jeden und alles richten kann, besonders häufig gegen den Staat und seine höchsten Organe abzielt. Der Obrigkeitshass militanter Selbstbestimmungsfanatiker nimmt dann auch immer düstere Züge an, bis hin zur identitären Bewegung und zu überzeugten Reichsbürgern.
Individualismus, verstanden als Unangepasstheit und Eigentümlichkeit, ist gut, interessant, faszinierend. Aber nicht, wenn er zu einem verengten Geisteszustand wird, der die Konsensfindung verunmöglicht. Der Individualismus hat den Horror kollektivistischer Ideologien überwunden. Dafür hat er uns nun in den Albtraum einer zersplitterten Gesellschaft geführt, die sich voneinander isoliert in ihren jeweiligen eigenen Echoräumen exklusiv trifft und wiederfindet. Der blinde Drang nach unbedingter Selbstbestimmung kann auch in die Knechtschaft führen: in die Knechtschaft des Egos, in der man nur selbst Gesetz ist. Es ist allein eine Frage der Zeit, bis ein kollektivistischer Backlash folgt, der sich gewaschen hat.
Wir glauben zwar, frei zu sein, doch wir sind es nicht. Das Freiheitsstreben des Einzelnen führt zu sozialer Kälte. Der Andere wird nicht als Bedingung, sondern als Hindernis der eigenen Freiheit betrachtet. Es kommt zu Konkurrenzkämpfen und unsolidarischem Verhalten. - Freiheit kann es nur in einem geglückten Miteinander, in einem solidarischen Füreinander-tätig-Sein geben. Wir leben jedoch in einer Gesellschaft, in der vielfach vor allem nach Verwirklichung der eigenen, individuellen Freiheit gestrebt wird. Die soziale Dimension des Zusammenlebens kommt so zu kurz. Unabhängigkeit heisst für den Philosophen immer auch Verpflichtung.
Göttingen, 03.01.2020





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