top of page

Erfahrungen von Flüchtlingen gleichen sich über alle Zeiten und Orte hinweg

Aktualisiert: 14. Juli

Es ist der Flüchtling als menschliche Figur, sowohl Subjekt als auch Objekt unserer Geschichte. Denn Flucht und Vertreibung haben immer etwas Aktives wie etwas Passives zugleich. Fluchtbeispiele gibt es aus allen Epochen der Menschheitsgeschichte mannigfach. Die Abläufe ähneln sich fast immer. Die Begebenheiten der Flüchtlinge in aller Welt sind auf nahezu alle Orte übertragbar und austauschbar. Zumeist sind es nur Details an Fluchtberichten und Mitteilungen, die überhaupt erkennen lassen, wo und wann sich eine Flucht ereignete.


Fluchtgeschichten


Ein Augenzeugenbericht (1): „Hundert Menschen in einer Gruppe flohen aus dem Dorf, sieben aus unserer Familie, darunter das Kind. Überall Schnee und Eis. Viele hatten Erfrierungen an ihren Füssen... Wir brauchten zwei Wochen. Die Russen griffen uns unentwegt an. Sie haben uns Tag und Nacht bombardiert. Das Mädchen war auf einem Pferd mit einem Baby unter ihrem Arm. Das russische Flugzeug flog niedrig und sie fühlte, wie Blut rann. Das Blut stammte vom Baby. Sie fiel vom Pferd, das Baby war tot.“

In welchem Kontext dieser Bericht steht, lässt sich kaum sagen. Schnee und Eis sowie russische Flugzeuge könnten auf Fluchtepisoden in Ostpreußen oder Schlesien im Winter 1944/45 hinweisen. In diesem Fall sind es Afghanen gewesen, die im Winter 1979 vor der Sowjetarmee flohen. Die Gemeinsamkeiten der Fluchtberichte sind frappierend.

Bei diesen ohnehin bestehenden Ähnlichkeiten wird der Bezug zur unmittelbaren Gegenwart noch einmal besonders anschaulich, wenn wir das Schicksal von Bootsflüchtlingen betrachten. Ein Syrer, der 2015 die Flucht über das Mittelmeer nach Europa wagte: „Das Schlimmste ist nicht, dass deine Kinder schreiend auf dem Boden des Schlauchboots liegen. Das Schlimmste ist, dass du zum ersten Mal in deinem Leben deinen Kindern die Angst nicht nehmen kannst. Du schreist mit.“ - Wir erinnern uns auch an die vietnamesischen Boat-People nach dem Fall des südvietnamesischen Regimes 1975, als diese versuchten, in klapprigen Fischerbooten über das Südchinesische Meer zu fliehen. Ein Flüchtling erinnert sich: Sie seien 218 Personen an Bord gewesen, an Schlaf war nicht zu denken, in der Enge kein Platz zum Ausruhen. Alle hätten stehen müssen. „Sobald aber die absolute Dunkelheit den Kopf befiel, drehte sich alles, bis der Schwindel einen Grad der Unerträglichkeit erreichte und der Körper den Ausgleich suchte, indem er den Mageninhalt auswarf. Fast jeder übergab sich.“


Angst vor Entwurzelung


Es handelt sich bei den Fluchtgeschichten seit Beginn der Menschheit nicht nur um etwas Verbindendes, sondern auch um etwas Grundsätzliches und Allgemeingültiges. Meine These: Dass der Grad der Ablehnung, die Flüchtlinge erfahren, Rückschlüsse auf die Angst der Aufnehmenden zuläßt, selbst einmal entwurzelt zu werden. Flüchtlinge und das, was sie erlebten, führt einem vor Augen, wie zerbrechlich die eigene, scheinbar so sichere Existenz ist. Mit jeder Fluchtgeschichte stellt sich die Frage, wie fest man selbst wurzelt – zumal jeder sehr bald auch zum Flüchtling werden kann.

  1. Andreas Kossert: Flucht. Eine Menschheitsgeschichte. Siedler Verlag. München 2020.


Göttingen, 07.03.2024

 
 
 

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
Über Freundschaft

Für wahre Freundschaft gibt es keinen gemeinsamen Nenner, keine übergreifende Definition. Eine einzige Definition oder eine einzige...

 
 
 
Kleine Anfrage zum Elterngeld

Meine Frau und ich mussten bei der zuständigen Sachbearbeiterin im Jugendamt, nennt sich hier „Fachbereich Jugend“, unterschreiben, dass...

 
 
 

Kommentare

Kommentare konnten nicht geladen werden
Es gab ein technisches Problem. Verbinde dich erneut oder aktualisiere die Seite.
bottom of page