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„Die Privilegien im Anstossnehmen müssen endlich aufhören!“ Hate-Speech gegen Andersdenkende

Nachdem der deutsche Maler George Grosz 1927 ein Bild veröffentlicht hatte, das Jesus mit Gasmaske und Soldatenstiefeln zeigte, war eine Anklage wegen Gotteslästerung mit mehreren Prozessen die Folge. Ludwig Marcuse machte einen weiten Schritt zurück und reflektierte 1930 in der Zeitschrift „Die Weltbühne" in seinem Artikel über die Grundlagen, auf denen das Gesetz gegen die Gotteslästerung basiert. Seine zentrale Frage war: „Kann es sinnvoll überhaupt so etwas geben wie staatlicher Schutz irgendwelcher Gefühle?“ - Gefühle haben nicht nur die Christen, Muslime und Juden, sondern zum Beispiel auch die Pazifisten – werden deren Empfindungen etwa nicht durch die Fabrikation von Giftgasen, von Panzern und Waffen verletzt? Stören denn die Expressionisten nicht die Gefühle der Kubisten und die Positivisten jene der Kantianer?

Ja, jeder könnte dauernd wegen verletzter Gefühle reklamieren. Wo sollte das enden? Marcuse plädierte für eine andere Lösung. Da Gefühlskränkungen unumgänglich seien, müsse man lernen, „nicht Anstoss zu nehmen“ und Disziplin entwickeln in der Reaktion auf Verletzungen. Dies müsse für ausnahmslos alle Gruppen und Individuen gelten. „Die Privilegien im Anstossnehmen müssen endlich aufhören!“

Marcuses Artikel macht einen heute nachdenklich, gerade weil sich die Vorzeichen in der Vergangenheit vollständig umgekehrt haben. Die Gefühle von Religionsangehörigen sind heute kaum noch jemandem ‚heilig‘. Wenn die alten Gesetze gegen Blasphemie da und dort noch weiter bestehen, wird das ungehinderte Lästerndürfen im Allgemeinen doch als zivilisatorischer Fortschritt gefeiert. Dafür sind heute die Gefühle zahlloser anderer Gruppen zu Gradmessern geworden, die unsere Äusserungen steuern: Frauen, Farbige, Personen mit nicht binärer Geschlechtsidentität, die Juden, der Staat Israel – auf etliche Sensitivitäten versuchen wir modernen Menschen heute Rücksicht zu nehmen und die Sprache so zu gestalten, dass keine Verletzungen aus ihr resultieren.

Trotzdem bleibt das von Marcuse erkannte Grundproblem bestehen: Wo die Gefühle der einen Gruppe als unantastbar gelten, die Empfindungen der anderen aber geschmäht werden dürfen, leben wir in einem System, das „Privilegien im Anstossnehmen“ weiter verteidigt.

Die heutige Inkonsequenz im Umgang mit Gruppengefühlen springt einem besonders dann ins Auge, wenn man Blasphemie nicht als antiquiertes Delikt versteht, sondern die Gotteslästerung allgemeiner betrachtet: als eine spezifische Form von herabsetzenden Sprechakten, als Variante von verletzenden Äusserungen, wie sie heute gerade üblich sind.

Nach neuerer Auffassung vermag blasphemisches Reden nicht mehr den Herrn und Gott treffen. Um 1800 kam es endlich zu einem veränderten Verständnis der Blasphemie. Der Rechtsgelehrte Anselm von Feuerbach hielt fest: „Dass die Gottheit injuriert werde, ist unmöglich.“ Diverse Aufklärer vertraten die Meinung, dass der Herrgott menschlichen Schutzes nicht bedürfe. Nun trat der Mensch gewissermassen an Gottes Stelle. Nach dieser Auffasssung vermochte blasphemisches Reden nicht mehr den Herrn, dafür aber die an ihn glaubenden Menschen verletzen und überdies die Ruhe im Staat gefährden.

Unter diesen Prämissen bestanden die Gesetze gegen Blasphemie in den meisten Ländern Europas fort. Überall wurde ihre Anwendung kontrovers diskutiert, immer wieder entstanden wie im Falle Grosz öffentliche Debatten um das Delikt. Diskussionen um „lästerliche“ Bücher und Filme begleiteten den Westen auch in der Nachkriegszeit noch lange. Denken wir nur an das Stück „Der Stellvertreter“ von Rolf Hochhuth Anfang der 60iger Jahre. Jedoch waren es zunehmend Rückzugsgefechte der schwächer werdenden Kirchen. Allgemein stand zu erwarten, das sich das Thema „Gotteslästerung“ über kurz oder lang erledigen würde.


Die Wende der anderen Art


Doch 1998 bedeutete auch in dieser Hinsicht eine Wende. Die Fatwa gegen Salman Rushdie markierte den Beginn neuer Konflikte, die sich in veränderten globalen Konstellationen abspielen. In den westlichen Disputen hatte blasphemisches Reden in jüngeren Zeiten den Charakter der Herrschaftskritik angenommen. Wer gegen Gott lästerte, wollte damit zumeist Leute treffen, die das Machtsystem repräsentieren.

Die Tausende Muslime, die gegen Rushdies “Satanische Verse“ und später gegen die in Dänemark und Frankreich veröffentlichten Mohammed-Karikaturen auf die Strasse gingen, brachten zudem ein anderes Deutungsmuster in Umlauf. Sie prangerten die Blasphemie als Instrument an, das der dominante Westen einsetze, um die Angehörigen der „Dritten Welt“ zu diskriminieren.

Dieser Vorwurf ist umso leichter zu erheben, als sich beim Thema des beleidigenden Sprechens im Westen einige Inkonsequenzen zeigen. Konservative und Nationalisten, die heute auf das Recht pochen, Mohammed zu verhöhnen, sind dieselben, die sich in früheren Jahrzehnten vehement gegen das Lästern wehrten, um angeblich das Christentum zu schützen. - Und verkompliziert wird die Sache eben auch dadurch, dass die westlichen Gesellschaften tendenziell immer sensitiver werden und sich dort, wo andere als religiöse Gefühle zur Debatte stehen, denkbar weit von Marcuses bestechender Idee entfernten, an Verletzungen eben keinen Anstoss zu nehmen.

In dieser vertrackten Situation ist es hilfreich, einen ganz weiten Schritt zurückzutreten, um Abstand zu gewinnen und das Phänomen der Blasphemie ganz grundsätzlich und grundlegend zu betrachten.


Göttingen, 13.03.2021



 
 
 

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